Stress Test - gefühlte Sicherheit

Mike Treasure hat in seinem Blog "As Easy As Riding A Bike" 2015 einen Beitrag geschrieben, den er mit "Stress test" betitelt hat. Er benutzt diesen Tweet

als Aufhänger, in dem die Trennung von Fahrrad- und Autoverkehr mit der Einrichtung von Waggons nur für Frauen verglichen wird, um sie vor Belästigung von Männern zu schützen (ein Vorschlag, der fast zehn Jahre später in Berlin wieder auftaucht).

Treasure baut im Artikel dann ein fiktives Szenario auf, mit dem er darauf hinweist, dass auch schon Verhalten, welches weitgehend gesellschaftlich "akzeptiert" und weit weg von "Belästigung" zu sein scheint, zu Stress führt, der zu Verhaltensänderungen führt. Das Szenario ist wie folgt:

Let us imagine a situation in which a good number of people in train carriages are in the habit of… throwing and catching bricks. Not all, but a sizeable proportion. You could say, it’s what the British do, on trains. (A bizarre situation, but bear with me).
The vast majority of people throwing and catching these bricks are doing so with regard for other people. They’re doing it carefully, and trying their best to ensure their bricks don’t hit other people, be they brick-throwers, or non-brick-throwers.
But of course a tiny minority will throw their bricks recklessly. These are the anti-social minority, who don’t really care about other people, and are just lobbing their bricks, willy-nilly, without thought for others.
Let us imagine Britain has clamped down on this behaviour, over a period of decades. There are stiff penalties for reckless and anti-social brick throwing; repeat offenders are banned from trains.
This policy has been a success for a long time. Dangerous brick-throwing is almost entirely eliminated. The only people throwing bricks on trains are doing so carefully. You will almost certainly never encounter a reckless brick-thrower on a train. Only considerate, thoughtful ones.
Despite this success, let us now suppose that people have lobbied – successfully – for train carriages where you won’t encounter brick-throwers.
Would you choose to carry on sitting in the carriages with brick-throwing, or would you now opt to sit in these new carriages?
We might go further and even imagine that all brick throwing in train carriages will – at some point in the near future – only be carried out by robots, highly advanced robots, who will never make a mistake with their brick-throwing, and will never hit a fellow passenger. You would be perfectly safe to sit in one of these carriages.
Again – would you choose to sit in this brick-throwing carriage? Or would you instead opt for the carriage without brick-throwing?

Natürlich würde jeder eine Umgebung wählen, in der man nicht mit steinewerfenden Menschen konfrontiert ist, wie präzise und rücksichtsvoll die Steine auch geworfen werden. Sogar wenn die Steine von Robotern geworfen würden, die keine Fehler machen (eine schöne Refernz auf die ja schon damals angekündigten autonomen Fahrzeuge, die "ganz bald" in Massen auf den Straßen zu finden sein würden).

Wie Treasure schön beschreibt, "löst es Stress aus" sich in der Nähe von schweren, fliegenden Gegenständen zu befinden. Er beschreibt aber auch, dass das Aufrechterhalten einer ständigen "Wachsamkeit" (vigilance) als Stress empfunden wird.

Umgekehrt wird es als entspannend empfunden, nicht ständig wachsam sein zu müssen und dabei trotzdem höchstwahrscheinlich nicht zu Schaden zu kommen.

Und genau das ist es, worum es beim Thema "gefühlte Sicherheit" geht:

Oft wird "gefühlte Sicherheit" dabei der Kriminalstatistik gegenübergestellt, in der die Dinge gar nicht so schlecht zu stehen scheinen.

Die Argumentation hören in anderem Zusammenhang oft auch Initiativen, die sich für mehr "Tempo 30 Zonen" einsetzen (die in der Regel nicht eingerichtet werden können, da es sich nicht um einen "Unfallschwerpunkt" handelt). Selbst in einer bereits eingerichteten "Tempo 30 Zone" in der die Statistiken so aussehen:

sieht die Realität vor Ort aber dann so aus, dass E-Scooter- und Fahrradfahrer lieber auf dem Bürgersteig fahren, weil sie eben doch eher Stress auslöst.

Genauso löst offensichtlich die Anwesenheit der lokalen Drogenszene bei jungen Frauen soviel Stress aus, dass sie sich lieber zum Warten in die bewachte Radstation flüchten – obwohl die Szene eher mit sich selbst beschäftigt zu sein scheint. "Es ist ja nichts passiert". Das Verhalten der jungen Frau taucht vielleicht später in irgendeiner Statistik zum Bahnhofsumfeld auf...

Wie wir an den Folgen der Corona-Zeit gesehen haben, dauert es immer etwas, bis Verhaltensänderungen auffallen, um dann erst im Nachhinein (ob zutreffend oder nicht) erklärt zu werden.